Vier Argumente gegen das heilige „4-Augen-Prinzip‟

Michael Schneider · 28. Juli 2016

In unserer Branche – und vor allem auch bei unseren Kunden – wird das sog. „4-Augen-Prinzip‟, also das vollständige Gegenlesen eines übersetzten Textes durch einen zweiten, irgendwie besseren Übersetzer, immer noch hochgehalten wie eine Reliquie in der Monstranz, als das Non-Plus-Ultra in der Qualitätssicherung.
Der aufmerksame Leser wird schon aus meinem Einleitungssatz herauslesen, dass ich – nun, einigen wir uns auf: anderer Meinung bin. Aber warum? Was ist so schlimm an der Idee? Eine kleine Antwortensammlung:

1. Es ist teuer

Klare Sache, möchte man meinen. Wenn zwei gute, voll ausgebildete Übersetzer an einer Übersetzung arbeiten, ist das kostspieliger als wenn ein Profi alleine arbeitet. Da müssen jetzt nicht gleich die doppelten Kosten entstehen, wenn man davon ausgeht, dass die Revision des zweiten Übersetzers weniger Aufwand darstellt als die eigentliche Übersetzungsleistung. Allerdings stimmt das nur, solange im zweiten Durchgang wirklich nur genau dasselbe Textvolumen wie beim Übersetzen kontrolliert wird. Oft wird – stillschweigend – davon ausgegangen, dass das zweite Augenpaar mal eben so das gesamte Dokument durchsieht und ggf. korrigiert. Und das führt schnell zu einem überraschend hohen Aufwand, den in der Regel niemand bezahlen will.

2. Es ist nicht sicher

Hier muss ich etwas ausholen. Ich habe eine ganze Weile in der Wareneingangskontrolle eines Elektronik-Konzerns gearbeitet. Dort ging es darum, elektronisch Bauteile auf die Einhaltung der geforderten Eigenschaften und Toleranzen zu prüfen und dazu auch geeignete Prüfverfahren und Prüfgeräte zu entwickeln. Als „Frischling‟ in der Abteilung war ziemlich genau meine zweite Frage (gleich nach „Wo ist hier eigentlich die Toilette‟) „Warum verwenden wir nicht die Prüfgeräte, die der Hersteller der Bauteile auch verwendet? Wir erfinden doch sonst jedes Mal das Rad neu?‟.

Die Antwort darauf war so einfach, dass ich sie eigentlich erst bei beo wirklich verstanden habe: Wir hätten nur die Bauteile-Fehler gefunden, die der Hersteller selbst schon gefunden hätte; wir hätten also nur die Prüfverfahren des Herstellers kontrolliert. Das ist zwar nichts Schlechtes, aber eigentlich ging es doch darum, eine höhere Qualität der Bauteile zu erreichen.

Da muss man eine Weile drüber nachdenken, das gebe ich zu …

3. Es ist zu spät

Nochmal ein Gleichnis aus der industriellen Fertigung. Was würde wohl ein Toaster kosten, wenn er wie eine Übersetzung nach „4-Augen-Prinzip‟ hergestellt werden würde? Wenn also den Fachleuten in der Fertigung gesagt würde: „Schraubt das Teil mal irgendwie zusammen, hinterher kommt ein zweiter Fachmann, der dafür sorgt, dass der Toaster auch funktioniert. Und wenn er dafür das Teil zerlegt und neu baut…‟.

Ich übertreibe vielleicht ein kleines bisschen, aber immerhin werden heute unzählige Toaster täglich ohne (!) 100-prozentige Endkontrolle hergestellt, und alle funktionieren. OK, fast alle. Es wird nämlich Qualitätssicherung während der Produktion betrieben; dadurch wird Qualität produziert und nicht hinterher hinein geprüft.

4. Es ist (oft) unnötig

Es ist doch wahr! Oft wird einfach „höchste Qualität‟ und „4-Augen‟ gefordert, statt dass – zusammen mit den Kunden bzw. Anwendern – abgesprochen wird, welche Qualität tatsächlich benötigt wird. Es geht mir hierbei nicht um irgendwelche abstrakte Qualitätsniveaus, was ja eine objektive, quantifizierbare Messbarkeit von Qualität voraussetzen würde, sondern um das Erarbeiten von einzelnen, klar definierbaren Qualitätsvorgaben.

Also z.B.: Eine inhaltlich korrekte Übersetzung ist selbstverständlich, aber wie wichtig ist der Stil? Und welcher Stil überhaupt? Gibt es Terminologie-Vorgaben? (tolles Thema übrigens: wie soll ein 2tes Augenpaar Terminologie-Fehler vermeiden, wenn es keine festgelegte Terminologie gibt?)

Und schließlich: Was lässt sich alles automatisch prüfen? Wie viel der Qualitätsvorgaben des Kunden ist dadurch schon abgedeckt?

Sehr oft ist es nämlich so, dass die Qualität, die wir durch saubere Prozesse, automatische Prüfungen, Terminologie und den Einsatz eines qualifizierten Übersetzers immer erreichen können, genau die Qualität ist, die durch die Anbetung des heiligen 4-Augen-Prinzips über uns kommen soll.

Amen.

Michael Schneider

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